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Story  »  Di, 04/07/2023

Eine Klasse für sich

16+: Geschichten, Träume und unterschiedlichste Welten


Anaya lebt mit ihrem Vater und ihren beiden Brüdern seit August 2020 in Südtirol. Ihre Mutter und Schwester konnten damals nicht mit ihnen ausreisen. „Wenn ich aufstehe, rufe ich sofort meine Mutter an. So beginnt mein Tag.“ Die 20-jährige Pakistanerin hat letztes Jahr den Orientierungslehrgang „16+“, der damals als Pilotprojekt in Bozen startete, erfolgreich abgeschlossen. Anaya sowie weitere Beteiligte geben einen Einblick in Geschichten, Träume und unterschiedlichste Welten.

Was genau ist 16+? Es ist ein Lehrgang für junge Seiteneinsteiger*innen am Realgymnasium und der Fachoberschule für Bauwesen „Peter Anich“ in Bozen. Im September 2022 ist das Projekt in die zweite Runde gestartet. Mittlerweile sind 10 Schüler und 4 Schülerinnen zwischen 16 und 20 Jahren aus verschiedenen Nationen in dieser Klasse. Die meisten von ihnen sind erst vor wenigen Monaten in Südtirol angekommen. Der Lehrgang legt neben dem Erwerb der beiden Amtssprachen auch Wert auf ein Orientierungsangebot in Bezug auf das Schul- und Arbeitssystem und in das gesellschaftliche

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Leben. Die Newcomer*innen werden ein Schuljahr lang begleitet.

„Im Projekt 16+ habe ich so viel gelernt. Dieses Jahr war bis jetzt mein bestes in Italien.“ Anaya1 besucht nun die 2. Klasse der WFO in Bozen. Ihre Lieblingsfächer sind Mathematik und Chemie. Manchmal steht Anaya schon um halb vier auf, um noch vor der Schule zu lernen. Nach der Schule geht sie nach Hause kochen und aufräumen, bevor sie mit den Hausaufgaben beginnt. Am Abend wird gemeinsam gegessen. Anstelle von „Chillen“ oder „Ausgehen mit Freundinnen“, setzt sich Anaya wieder an ihren Schreibtisch und lernt, bevor sie zu Bett geht. Zusätzlich besucht sie jeden Freitagnachmittag einen B1 Sprachkurs. Anaya assoziiert mit dem Projekt 16+ Motivation und großes Verständnis vonseiten des ganzen Teams. „Die Lehrerinnen haben nie gesagt: Du kannst das nicht! Sie haben immer gesagt, Du kannst das!“ Auch heute noch kontaktiert sie den Coach, Silvano Serpagli, vom Gruppen- und Einzelcoaching. Sie meldet sich, wenn ein Test weniger zufriedenstellend ausgegangen ist und holt sich Stärkung auf ihrem Weg zur ausgebildeten Bürofachkraft. Ihr Traum ist es nämlich, in einem Büro zu arbeiten.

„Ich bin gegangen, weil ich einige Probleme in meinem Heimatland hatte.“ Charis1, 18 Jahre alt, ist mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder vor dem Vater aus Albanien geflüchtet. Sie ging neun Jahre zur Schule und fing mit einer Ausbildung zur Friseurin an, die sie jedoch von heute auf morgen abbrechen musste. Im Februar 2022 kam sie nach Südtirol. Ihre aktuelle Wohnsituation ist unsicher. In der heurigen Klasse 16+ wird Charis als fröhlich, kontaktfreudig und entschlossen erlebt. „Ich mag den Orientierungslehrgang 16+ sehr, weil es positive Dinge sind, die ich lerne.“ In Einzelgesprächen wird jedoch ihre Not und Angst spürbar. Es erweckt den Eindruck, als sei sie immer noch auf der Flucht. Sie macht rasche Fortschritte in Italienisch, weil Charis weiß, dass damit die Chancen höher sind, einen Job zu bekommen. Ihr Traum ist es, eine Lehrstelle als Friseurin zu finden, doch als Überbrückung würde sie auch als Tellerwäscherin arbeiten.

„Kinder mit Migrationshintergrund müssen in zwei Welten leben – wie schwierig das ist, wird oft nicht anerkannt,“ erklärte Inge Niederfriniger, Projektkoordinatorin des Orientierungslehrgangs 16+ bereits 2020 im „Migrationsreport Südtirol“.

Diese Erfahrungen teilen viele der Schüler*innen im Projekt 16+. Entweder müssen sie einen Teil der Familie zurücklassen oder Minderjährige kommen allein. Auch die zwei jungen Herren, Himal1 (20) und Sunil1 (18), vermissen ihre Mutter sehr und telefonieren täglich mit ihr.

„Grad heute wieder, ich meine, der Vater wohnt in einem Auffanglager, die Mutter ist mit vier Kindern in einem Hotelzimmer. Sie können die Sprache nicht und müssen hier in die dritte oder vierte Klasse gehen. Das ist ein Anspruch an Jugendliche, der fast nicht zu stemmen ist. Das schaffen auch nur die wenigsten,“ unterstreicht Ingrid Keim, Direktorin des Realgymnasium und der Fachoberschule für Bauwesen.

Aufgrund solcher Erfahrungen und ihrer stetigen Zunahme seit 2016, legte die Direktorin den Grundstein für den Orientierungslehrgang 16+. Sie nennt diese Klasse „einen ersten Schritt zur wirklichen Inklusion“. Das Ziel von dem Projekt ist, dass die jungen Newcomer*innen mit unterschiedlichsten Bildungsniveaus eine Orientierung bekommen und einen Arbeitssicherheitskurs machen, um danach einen geeigneten Bildungs- bzw. Berufsweg einschlagen zu können. Für manche ist es neben einem Lernort auch ein Ort, wo sie dem Frieden ein Stück näherkommen.

Die Lehrerinnen zeigen ein hohes Maß an Flexibilität und Offenheit. Jeden Vormittag treten sie in Kontakt mit acht Nationen und im Gepäck haben sie ihre eigene Kulturgeschichte. Manche von ihnen haben selbst einen Migrationshintergrund.

Neben den Unterrichtseinheiten Deutsch, Italienisch, Englisch, Mathematik, EDV, gesellschaftliche Bildung und diverse Praxisfächer wie Holz, Kochen und Malen, wird die Klasse von einem externen Coach sowohl im Gruppenkontext als auch individuell in ihrer Schul- oder Arbeitseingliederung begleitet.

Eine Neuheit im heurigen Schuljahr ist das Theaterprojekt, welches von Flora Sarrubbo und Christian Mair gestaltet wird. „Ich sehe es so, dass diese Träume nicht unmögliche Träume sind. Im Projekt 16+ ist es wirklich so, dass die Realität sehr nahe, greifbar ist. Diese Berufe, die für uns Realität oder selbstverständlich sind, sind für die Schüler*innen dieser Klasse ein Traum,“ hebt Theaterregisseur Mair hervor. Es handelt sich hierbei um Berufe wie zum Beispiel Koch, Kellner, Magazineur, Friseur, Elektriker.

Audrey Blossom Maria Lobo, Psychologin aus England und Englischlehrerin beim 16+ wünscht sich für die Gruppe, „dass die Schüler*innen ihren Weg finden, ja, dass sie zufrieden sind mit dem, was sie anfangen, dass sie motiviert sind und wirklich dahin arbeiten.“ Für sich wünscht sie sich, dass sie eine gute Arbeit macht, damit sie das „irgendwie ermöglichen kann.“

Sandra Scherz
JugendCoachingGiovani
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