Sarajevo
Die Reise beginnt in der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas. Seit 24 herrscht Frieden, wenigstens auf den ersten Blick. Die Spuren des Krieges sind überall noch sichtbar, von den Rosen von Sarajevo (mit rotem Harz gefüllte Einschusslöcher) bis zu den Einschlägen der Granaten auf den Fassaden nur teilweise renovierter Gebäude. Der Rundgang durch die Stadt führt uns auch nach Markale, dem Marktplatz wo im Februar 1994 und im August 1995 Mörsergranaten mitten in die Menschenmenge einschlugen und jeweils 68 und 36 Menschen töteten. Die Belagerung der Stadt durch serbische Nationalisten dauerte 44 Monate, in denen die Bewohner ohne Leitungswasser und Strom, mit knapper Nahrungsversorgung und bis zu 3700 Bombenexplosionen am Tag zu überleben versuchten. Knapp 12000 Zivilisten, darunter ca. 1400 Kinder, starben. Und dennoch verging kein Abend, an dem nicht wenigstens ein Konzert, ein Theaterstück oder eine Lesung vorgeführt wurde. Der brutalsten Unmenschlichkeit entgegnete man mit dem erhabensten Ausdruck menschlichen Geistes. Jeden Tag.
Srebrenica
Bis zur Katastrophe von ’92-’95 war Srebrenica eine Kleinstadt mit knapp 12000 Einwohnern. Bei Ausbruch des Krieges wurde die Ortschaft in kürzester Zeit Zufluchtsort für alle Muslime der umliegenden Dörfer, die den von serbischen Nationalisten im Detail geschmiedeten Plänen der ethnischen Säuberung zu Opfer fielen und deren Bevölkerung auf brutalste Weise ermordet oder vertrieben wurde. Srebrenica wurde 3 Jahre lang eingekesselt, die humanitäre Versorgung kollabierte.
Im April 1993 wurde das Gebiet zur UN-Schutzzone (United Nations Safe Area) erklärt. Und wurde dennoch am 11. Juli 1995 durch serbische Truppen, angeführt von General Ratko Mladić, gestürmt. Was an diesem Tag und der darauf folgenden Woche geschah, brandmarkt die internationale Gemeinschaft, und in erster Linie Europa, mit ewiger Schande.
Von den 40000 Flüchtlingen die sich in Srebrenica befinden flüchteten rund 15000, vorwiegend Männer, über die Berge im Versuch, die 105 km entfernte Stadt Tuzla zu erreichen. Nur die Hälfte überlebte. Die übrigen 25000 erreichten Potočari, ein kleiner Vorort von Srebrenica, wo sich die UN-Basis befand. Die holländischen Blauhelme nahmen nur 5000 auf und ließen die restlichen 20000 auf der Straße. Die serbischen Truppen erreichten Potočari und begannen knapp 200 Meter von der UN-Basis mit den ersten Exekutionen, während General Mladić die Auslieferung der in der Basis aufgenommen 5000 Zivilisten samt nach Geschlecht getrennter Namenslisten forderte. Die Blauhelme gehorchten widerstandslos. In der darauffolgenden Woche wurden 8300 Bosniaken männlichen Geschlechts ab dem Alter von 12 Jahren hingerichtet und in Massengräbern verschüttet. Es war das erste Genozid in Europa nach dem 2. Weltkrieg. Und es geschah genau dort wo die internationale Gemeinschaft für die Unversehrtheit der zivilen Bevölkerung verantwortlich war.
Tuzla
Am Ende unserer Studienreise treffen wir Zijo Ribić, der uns seine Geschichte erzählt. Zijo ist Moslem und Rom. In der Nacht vom 12. Juli 1992 war er 7 Jahre alt. Eine serbische paramilitärische Einheit tötete seine Eltern und sieben Geschwister, er selbst wurde verwundet aber überlebte. Er wuchs in einem Weißenhaus auf, besuchte die Hotelfachschule und wurde Koch. Eines Tages erhielt er einen Anruf aus Belgrad: Die sieben Täter waren identifiziert worden und er wurde in den Zeugenstand gerufen, um gegen sie auszusagen. Auch dank seiner Aussage wurden die Mörder seiner Familie 2013 verurteilt. Bis zum Freispruch zwei Jahre später. Das serbische Strafgesetz hat nämlich keinen eigenen Kodex zur Bestrafung der kriminellen Vereinigung (joint criminal enterprise). Und nachdem es im Laufe des Strafverfahrens nicht möglich war, die einzelnen in der Nacht des Massakers verübten Taten den einzelnen Tätern zuzuordnen und Straftaten nach serbischem Gesetz nur individuell zugeschrieben werden können, war der Freispruch der Mörder die einzige logische Konsequenz.
Dennoch schafft es Zijo, folgende Worte auszusprechen: „Ich will Gerechtigkeit. Aber ich hasse sie nicht. Und ich verzeihe ihnen.“ Die moralische Größe dieses Mannes sprengt alle unsere psychologischen und existentiellen Parameter und führt uns direkt in die Sphäre der Metaphysik. Jede*r der/die im zuhört muss zugestehen, dass aus den dunkelsten Kapiteln der Geschichte manchmal Giganten herausragen, die selbst der tiefsten Finsternis trotzen.
Wir sahen in Bosnien die Hölle des Nationalismus in seiner reinsten Form. Aber wir sahen auch Licht, so klar wie nie zuvor.