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Story  »  Di, 22/10/2019

Hikikomori

Ausweg in den Käfig


Betroffene Jugendliche sehen keine andere Chance, als sich dem steigenden Konformitätsdruck sowie den Bewertungen der Gesellschaft zu entziehen. Die Sehnsucht nach einem sicheren Platz, an dem man noch die Kontrolle hat, macht das eigene Zimmer zum einzigen Rückzugsort.

Hikikomori (japanisch für „sich wegschließen, aus der Gesellschaft zurückziehen“) beschreibt ein Phänomen, welches vor allem junge Menschen betrifft. Das japanische Gesundheitsministerium definiert Hikikomori folgendermaßen:
- die Person schottet sich für mindestens sechs Monate ab
- es bestehen keine Beziehungen außerhalb der Familie
- der soziale Rückzug ist kein Symptom einer anderen psychischen Störung
- Betroffene besuchen keine Schule, sind nicht in Ausbildung oder Arbeit

Hikikomori sind Großteils männlich und zu Beginn zwischen 15 und 24 Jahre alt. Laut Schätzungen von ­Hikikomori Italia gibt es landesweit circa 100.000 Betroffene.
Sie wählen den sozialen Rückzug nicht „freiwillig“, sondern sehen in diesem Moment einfach keine Alternative. Von außen betrachtet, hat es den Anschein als würden diese Jugendlichen den Kontakt mit der Umwelt vermeiden und nicht daran interessiert sein. Laut aktuellen Studien sehnen sie sich jedoch nach Kontakt zu anderen Menschen. Hikikomori ziehen es vor, sich in eine risikofreie Gedankenwelt zurückzuziehen, anstatt durch konkrete Handlungen, ihre Wünsche zu realisieren.
Die Autoren sind sich darin einig, dass die Ursachen des Phänomens zu vielschichtig sind, als dass man sie klar identifizieren könnte. Allgemein kann beobachtet werden, dass soziale, medizinische und persönliche Faktoren zusammenspielen und zur Entstehung des Rückzugs beitragen: hohe Erwartungen, sozialer Druck, nicht ausreichend ausgeprägte Beziehungskompetenzen sowie mangelnde Erfolgserlebnisse in Schule oder Arbeit. Die Jugendlichen scheitern oft an ihrer eigenen Vorstellung von Perfektion, die sie schlussendlich nicht erfüllen können und somit in einen Teufelskreis geraten. Sie haben Angst davor, in das gesellschaftliche Geschehen zurückzukehren, da sie das Gefühl haben, Lebenszeit verpasst zu haben und dadurch den Anforderungen nicht mehr gerecht zu werden.
Besonders gut ersichtlich wird dies in der Schullaufbahn der Betroffenen: viele Fälle von Hikikomori beginnen mit Schulabsentismus.
In der Pubertät ist die Akzeptanz durch die Gruppe der Gleichaltrigen besonders wichtig und daher steigt auch der empfundene Konformitätsdruck. Ausgrenzung oder eine konfliktreiche Beziehung zum Lehrpersonal in Kombination mit dem Auftreten von schulischen Leistungsschwächen können oft Auslöser eines schleichenden sozialen Rückzugs sein.
Mögliche Folgen von Hikikomori können ein gestörter Schlafrhythmus, das Auftreten von depressiver Stimmung, die Entwicklung einer Zwangsstörung, ein Rückfall in kindliche Verhaltensmuster sowie Konflikte und Gewaltanwendung gegenüber Familienmitgliedern sein. Betroffene geben häufig ihren Eltern die Schuld für ihre Situation, da sie sich rückblickend missverstanden und ignoriert fühlen.
So war es auch bei M.: Sie hatte die erste Klasse Oberschule abgebrochen und war dabei sich von jeglichen sozialen Kontakten zurückzuziehen. Durch qualitative Beziehungsarbeit konnte im JugendCoachingGiovani Vertrauen aufgebaut und eine wertschätzende, verständnisvolle Grundhaltung vermittelt werden. Aufbauend auf M.´s Interessen und Ressourcen, wurde ihr Unterstützung bei der Planung konkreter Aktionen sowie Rückhalt bei den ersten Umsetzungsschritten angeboten. So konnten positive Erfahrungen gemacht und Erfolgserlebnisse erzielt werden, die langfristig das Selbstwertgefühl stärkten. Ähnlich war es auch bei K., einem 17jährigen Schulverweigerer, der im Rahmen eines Praktikums wieder Kontakt zu Mitmenschen aufbauen konnte und so die Erfahrung machte, dass sein Beitrag und das Einbringen seiner Kompetenzen sinn- und wertvoll sind.

Für Eltern und Bezugspersonen von Betroffenen ist es wichtig, den Jugendlichen möglichst keinen zusätzlichen Druck zu machen oder sie mit zu hohen Erwartungen zu konfrontieren. Erfolgsversprechender ist eine wertschätzende Herangehensweise, die unterstreicht, dass es um das Wohlbefinden der Jugendlichen geht. Grundsätzlich ist es empfehlenswert, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Sandra Mercuri & Verena Massl
Team JugendCoachingGiovani
netz | Offene Jugendarbeit