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Story  »  Di, 09/08/2022

Bildungswege eröffnen!

Orientierungslehrgang für junge Seiteneinsteiger*innen mit Migrationshintergrund


In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Jugendliche aus verschiedenen Gründen (z.B. Familienzusammenführung, Asylgesuch, Arbeitsmöglichkeiten) in Südtirol niedergelassen. Es betrifft nicht die so genannte "zweite Generation" (die von zugewanderten Eltern in Italien geboren oder aufgewachsen ist), sondern jene, die sich erst seit kurzem im Land angesiedelt haben. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um newcomers mit unregelmäßigen Bildungsbiografien, die seit ihrer Ankunft im Land auf erhebliche sprachliche, verwaltungstechnische und allgemeine gesellschaftliche Hindernisse stoßen, die es ihnen nicht immer ermöglichen, ihre Ausbildung fortzusetzen, eine Lehre zu beginnen oder einen Beruf zu erlernen.

Seiteneinsteiger*innen brauchen tatsächlich Zeit, um sich im Schul-/Ausbildungssystem und in der Berufswelt zu orientieren, aber auch um die Landessprachen und schulische Grundlagenkompetenzen zu erwerben. Um diese Jugendlichen aufzufangen und ihnen einen Zugang zu einer Schule oder zum Arbeitsmarkt zu verschaffen, wurde im September 2021 solcher Orientierungslehrgang in Zusammenarbeit mit verschiedenen Projektpartner*innen zum ersten Mal gestartet.

Inge Niederfriniger ist die Projektkoordinatorin des Orientierungslehrgangs, außerdem leitet sie seit 2009 das „Kompetenzzentrum Migration“, ein geschaffenes Netz an Beratungsstellen und Sprachzentren der Landesverwaltung das Konzeptarbeit, Koordinierung und Beratung im Bereich der Sprachförderung bereitstellt. Im Gespräch mit Silvano Serpagli, stellt sie klar wie man Bildungswege für Seiteneinsteiger*innen mit Migrationshintergrund eröffnet und dadurch schulische Integration konkret fördern kann.

Auf der Grundlage welcher Bedürfnisse und Anforderungen wurde das Pilot- Projekt zur Ausbildungs- und Berufsorientierung 16+ entwickelt?

Inge Niederfriniger: In unserer Beratungs- und Unterstützungstätigkeit bemerken wir immer wieder, wie schwierig es für Jugendliche ist, erfolgreich in die Schule oder in eine Ausbildung einzusteigen, wenn sie im Alter zwischen 16 und 18 nach Südtirol kommen. Theoretisch bietet das inklusive Bildungssystem viele Instrumente und Möglichkeiten, solche Einstiege gut zu begleiten. Die Praxis schaut dann aber ganz anders aus. Es braucht ein sehr gutes Zusammenspiel vieler Faktoren, damit ein Einstieg in eine Oberschule oder Ausbildung glücken kann: Schüler*innen mit einer durchgängigen, klar ausgerichteten Bildungsbiografie und viel Motivation und Durchhaltevermögen können es schaffen, wenn die Familie sie unterstützt, die Lehrpersonen sie kompetent und einfühlsam begleiten und sie in der Klassengemeinschaft der Gleichaltrigen sozialen Anschluss finden.

Aber auch schon der Schritt vor dem Einstieg in eine Schule ist wichtig. Die meisten Jugendlichen haben wenig Einblick in die Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten in Südtirol und eine einmalige Ausbildungs- und Berufsberatung reicht meist nicht aus, damit sie und ihre Familien sich einen Überblick und realistische Vorstellungen verschaffen können.

Um nun Schüler*innen, die im Alter der Bildungspflicht nach Südtirol kommen, die Möglichkeit zu geben, sich in der Ausbildungslandschaft gut orientieren zu können, gleichzeitig aber auch in der neuen Umgebung anzukommen, die Landessprachen zu erlernen und ihre Kompetenzen in einigen Kulturtechniken auszubauen, haben wir das Projekt gestartet.

Das Projekt will Jugendliche auf ihrem Weg ins Südtiroler Bildungssystem begleiten.

Der Jahreskurs hat vor 16 Wochen begonnen. Was sind die Hauptschwierigkeiten, denen Sie bisher begegnet sind?

Die finanziellen Fragen, die sich natürlich zuerst gestellt haben, waren relativ schnell behoben, da die Projektpartner das Projekt im Moment finanziell und personell mittragen: die Deutsche Bildungsdirektion, die Sprachenzentren, das Netz/Offene Jugendarbeit, die Koordinierungsstelle für Integration, das Realgymnasium Bozen und die Landesberufsschule für Handwerk und Industrie. Ohne sie wäre das Projekt nicht möglich gewesen.

Dadurch dass es sich um ein neues Modell handelt, waren und sind die größten Schwierigkeiten derzeit struktureller Natur: Wie binden wir das Projekt an eine Schule? Wie werden die Lehrpersonen angestellt und verwaltet? Wie können evtl. Übertritte in Schulen geschehen? Welchen Abschluss bekommen die Schüler*innen? usw. Einiges davon ist immer noch nicht ganz klar, weil sich Lösungen oft erst während der Arbeit ergeben. Manchmal tun sich nach dem Lösen einer Frage aber auch drei neue auf, die wir uns vorher gar nicht vorstellen konnten.

Freilich war es auch nicht sicher, dass wir für das Projekt geeignetes Personal finden. Da hatten wir wirklich sehr großes Glück: Wir haben ein erfahrenes und sehr engagiertes interdisziplinäres Team aus Lehrpersonen und einem Jugendcoach.

Die Kommunikation zwischen dem Elternhaus und der Schule ist oft ein größeres Hindernis als der Unterricht selbst, wie überwindet man erfolgreich dieses Problem?

Es handelt sich bei unseren Schüler*innen um ältere Jugendliche und junge Erwachsene. Es geht also einerseits durchaus um die Kommunikation mit den Familien, aber auch darum, die Jugendlichen selbst in die Kommunikationsprozesse aktiv einzubinden und manchmal auch zwischen ihnen und den Eltern zu vermitteln. Ein Teil der Schüler*innen, der Eltern bzw. älteren Geschwister kann sich in einer der Landessprachen oder Englisch gut verständigen, z.T. haben wir auch Interkulturelle Mediator*innen hinzugezogen, die übersetzen. Wichtiger als die rein sprachliche Übersetzung ist manchmal aber die „Übersetzung“ kultureller Konzepte. Da ist es notwendig, Interkulturelle Mediator*innen einzubinden. Wir haben aber auch das Glück, dass Kolleg*innen im Team unterschiedliche eigene Migrationserfahrungen und transkulturelle Kompetenzen und Sensibilitäten mitbringen, die in der Kommunikation und Begleitung der Jugendlichen sehr hilfreich sind.

Welche Ergebnisse sind aus Ihrer Sicht zu erwarten, die den Erfolg und die Wiederholbarkeit des Projekts belegen würden?

Das vorrangige Ziel des Projektes ist es, dass möglichst alle Schüler*innen innerhalb dieses Schuljahres ihren Weg in eine Ausbildung oder Arbeit finden. Der wird bei jeder*jedem etwas anders ausschauen. Einmal wird es vielleicht gelingen, das Abschlussdiplom aus dem Herkunftsland anerkennen zu lassen und dann den Weg zu einem Universitätsstudium frei zu haben, andere entscheiden sich vielleicht dafür, in eine Oberschule einzusteigen, wieder andere finden eine Lehrstelle oder ein Praktikum für ihren Wunschberuf.

Gleichzeitig wissen wir auch, dass Projekte dieser Art Zeit zum Wachsen brauchen, d.h. wir werden evaluieren und nachsteuern müssen, wir werden auch aushalten müssen, dass sich nicht alles gleich auf Anhieb so löst oder entwickelt, wie wir es uns vorgestellt haben, bzw. sich ganz anders entwickelt, weil es für die Teilnehmer*innen angemessener ist – und wir werden unter Umständen einen langen Atem haben müssen.