Ist Einsamkeit, ist sozialer Rückzug ein Leiden oder ein Schutzmechanismus?
Einsamkeit kennt jeder Mensch. Man kann sie suchen und genießen, man kann darunter leiden und zerbrechen. Die Batterien wieder aufladen, sich dem Alltagsstress entziehen, in sich selbst Ruhe finden: ein Akt der Selbstfürsorge steht hierbei im Gegensatz zum Leiden unter oder an der Einsamkeit, der Angst vor Kontakten zu anderen Menschen oder dem Gefühl von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Sozialer Rückzug wird als Begleiterscheinung von Sozialphobie oder Depression beschrieben, kann aber durchaus auch kausal dafür sein (Procacci, Semerari 2019).
Vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann die Wissenschaft vermehrt sich für die Motive des Menschen zu interessieren, sich soziale Kontakte zu suchen und die Nähe zu anderen dem Alleinsein vorzuziehen. Sowohl das Aufsuchen des sozialen Umfeldes als auch dessen Vermeidung, wurde als aktive Tätigkeit gesehen.
In den 80ern und 90ern wurde besonders von Rubin und Mills (1988) darauf hingewiesen, dass es sich bei sozialem Rückzug um ein äußerst heterogenes Phänomen (nicht zuletzt auch im Verlauf eines Menschenlebens) handelt und dass es sowohl einen passiven als auch einen aktiven Rückzug gibt. So ziehen sich einige Menschen möglicherweise zurück, um sich vor potenziell negativen sozialen Interaktionen zu schützen oder um eine Überlastung durch soziale Kontakte zu vermeiden. Andere hingegen sind zurückgezogen, weil sie aus einer Gruppe ausgeschlossen werden und keinen Anschluss mehr finden.
Das Merkmal der Heterogenität wird heute als gesichert angesehen. Zugrunde liegen sowohl motivationale, emotionale und verhaltensbezogene Gründe.
Hinzu kommt der biochemische sich selbst verstärkende Einfluss des Neuropeptids Neurokinin B (hat u.a. pubertätsauslösende Wirkung!) welches mit negativen Verhaltensweisen, die in Zusammenhang mit Isolation auftreten, in Verbindung gebracht wird. Bei Mäusen konnte nach einer Isolation von zwei Wochen erhöhte Aggression, Angst und Hypersensibilität auf externe Stimuli festgestellt werden, ausgelöst durch dieses Neuropeptid (Procacci, Semerari 2019, S.175). Ein Teufelskreis.
Auch die neuen (Kommunikations-)Technologien spielen eine entscheidende Rolle, denn durch sie wird es möglich dem menschlichen Grundbedürfnis nach sozialem Kontakt und Nähe, auch isoliert und eingeschlossen in einem Zimmer, nachzukommen. Auf eine scheinbar kontrollierbare, dosierbare, erträgliche Weise. Entsteht dadurch also ein weiterer Teufelskreis? Sind sie Sucht oder Krücke, treiben sie in die Isolation oder sind sie Hilfsmittel, um in der Einsamkeit zu überleben?
In diesem Zusammenhang spricht man häufig von sogenannten neuen Abhängigkeiten wie Internet- oder Smartphone-Sucht. Doch so sehr die Geräte und Apps auch das Gefühl vermitteln, etwas zu verpassen, wenn man nicht rund um die Uhr dabei ist, sie bedingen nicht automatisch eine Sucht oder einen Rückzug aus dem sozialen Leben. Zu sehr sind die neuen Technologien in unser aller Leben und in nahezu all seine Bereiche vorgedrungen, als dass diese Behauptung noch vertretbar wäre. In Arbeit, Studium, Freizeit, Beziehungen, Sport, Gesundheit, etc. überall sehen wir uns mit dem Internet, meist via Smartphone konfrontiert und bei weitem nicht überall führen sie zu problematischer Vereinsamung der Nutzer.
Für einen zurückgezogenen Menschen kann die Beschäftigung damit, selbst die exzessive, einen Anker darstellen, der verhindert, dass das Boot davon treibt. Die Kehrseite ist, dass dieser Anker auch verhindern kann, dass das Boot zurück ans Ufer gelangt. Denn selbstverständlich sind soziale Kontakte weit mehr als das, was im Netz als solche vorgegaukelt wird.
Sozialer Rückzug reicht von vereinzelten selbstisolierenden Verhaltensweisen bis hin zum ständigen Rückzug aus dem sozialen Leben, eingeschlossen im eigenen Zimmer und tritt u.a. in Zusammenhang mit Depressionen, selbstverletzenden oder suizidalen Handlungen auf. Phänomene wie Hikikomori, Freeter, Otaku haben vor allem eines gemeinsam: sie heben das Symptom des Rückzugs in den Vordergrund, die Isolation ist hier das zentrale Merkmal. Aber es gibt noch weitere Gemeinsamkeiten. Sie alle beschreiben Menschen, vor allem Jugendliche, die isoliert leben, von der Familie abgesehen kaum soziale Kontakte pflegen, keiner oder keiner geregelten Arbeit nachgehen und sich häufig über Wochen, Monate oder gar Jahre in ihre Wohnung oder ihr Zimmer und dort in eine Scheinwelt zurückziehen (Kato 2012, Heinze 2014). Die Möglichkeiten solch ein Leben zu führen, sind heutzutage vielfältiger denn je: die Technologie macht es möglich, trotz Isolation mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben, ein Mindestmaß an Wohlstand ist für viele gegeben, während der Coronapandemie wurde die Isolation zur vorgeschriebenen Verhaltensweise. Und auch danach wirkt die Welt außerhalb der eigenen vier Wände beängstigend und bietet somit gute Gründe: Klimawandel, Krieg, Finanzkrisen, sozialer Druck, keine oder schlechte Zukunftsperspektiven. Einige Jugendliche erleben kaum Erfolgserlebnisse in der Schule oder bei der Arbeit und scheitern oft an zu hohen Erwartungen oder ihrer eigenen Vorstellung von Perfektion, die sie schlussendlich nicht erfüllen können. Sie haben Angst davor, in das gesellschaftliche Geschehen zurückzukehren, da sie das Gefühl haben, Lebenszeit verpasst zu haben und dadurch den Anforderungen nicht mehr gerecht zu werden.
Was kann man tun?
Eine gezielte Intervention oder gar Vorsorge wären natürlich optimal aber die Heterogenität und die Vielschichtigkeit des Phänomens sowie die Tatsache, dass es häufig schleichend eintritt, machen rasches Handeln schwer. Dazu kommt, dass die Isolierung eine selbstverstärkende Wirkung hat. Dennoch gibt es Signale, auf die man achten sollte: Schulabsentismus, sich ändernder Schlaf-Wach-Rhythmus, Zurückgezogenheit, depressive Stimmung, zwanghaftes Verhalten, Rückfall in kindliche Verhaltensmuster, Bevorzugen von kontaktunabhängigen Tätigkeiten, Gereiztheit oder Aggressivität. Dergleichen zu erkennen, kann einen ersten Schritt zur erfolgreichen Hilfeleistung bedeuten. Die neuen Kommunikationstechnologien können hier einen wertvollen Beitrag leisten, besonders wenn es um die Erreichbarkeit von Betroffenen geht, die sehr viel Zeit mit Apps, auf Streaming-Plattformen oder in Spielwelten verbringen. Nachrichten, Warnungen, Hinweise zum gesunden Umgang oder Informationen zu Diensten, die Hilfe anbieten, sind vereinzelt schon vorzufinden. Gleichzeitig stellen sie aber auch eine Kontaktmöglichkeit dar, da es je nach Art und Schweregrad des Rückzugs in erster Linie um den schrittweisen Abbau der Angst vor dem ersten Treffen geht. Beispielsweise mit einem Therapeuten; so können YouTube, Twitch, Instagram, Skype, E-Mail oder ein Avatar in einem Spiel genutzt werden, um mit einem Betroffenen erste kreative Annäherungsversuche zu unternehmen. Diese Möglichkeiten zu nutzen ist besonders dann sinnvoll, wenn nicht der/die Zurückgezogene selbst um Unterstützung ansucht, sondern (wie zumeist) die Familie mit oder gegen seinen/ihren Willen. Niederschwelligkeit und Flexibilität bei jeglicher Art von Intervention ist hier besonders empfehlenswert.
Bei Verdacht auf oder schon stattfindenden sozialen Rückzug ist vonseiten der Beteiligten und Experten überlegtes Handeln notwendig. Für Eltern und Bezugspersonen von Betroffenen ist es wichtig, den Jugendlichen möglichst keinen zusätzlichen Druck zu machen oder sie mit zu hohen Erwartungen zu konfrontieren. Erfolgsversprechender ist eine wertschätzende Herangehensweise, die unterstreicht, dass es um das Wohlbefinden der Jugendlichen geht und die aufzeigt, dass es einen Ausweg aus dem Käfig geben kann.
Mitunter problematisch könnten Maßnahmen wie das Abschalten der Geräte, Nutzungsverbote, das Trennen vom Internet oder ähnliches sein. Vielmehr ist es empfehlenswert, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dadurch kann schrittweise aufgezeigt werden, dass der einst schützende Raum inzwischen einengt und vom Leben aussperrt. Diese Einsicht ist der wichtigste Schritt zurück.
„…das, was mich vorher beschützt hat, ist jetzt wie ein Gefängnis“, Cinzia (Procacci, Semerari 2019)
Valentin Meyer
JugendCoachingGiovani
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Quellen:
• Heinze F. Y., Thomas P. (2014), Self and salvation: Visions of hikikomori in Japanese manga, “Journal of the German Institute for Japanese Studies Tokyo”, vol 26, n.1 (S. 151-169).
• Kato T. A. et al. (2012), Does the hikikomori syndrome of social withdrawal exist outside Japan? A preliminary international investigation, “Social Psychiatry and psychiatric Epidemiology”, vol. 47, n.7 (S. 1061-1075).
• Lee Y. S. et al. (2013), Home visitation program for detecting, evaluating and treating socially withdrawn youth in Korea, “Psychiatry and Clinical Neurosciences”, vol.67, n.4 (S. 193-202).
• Procacci M., Semerari A. (2019), Ritiro Sociale, Psicologia e Clinica, “Edizioni Centro Studi Erickson” (S. 173-206).
• Teo A. R. et al. (2015), Identification of the hikikomori syndrome of social withdrawal: Psychosocial features and treatment preferences in four countries, “International Journal of Social Psychiatry”, vol.61, n.1 (S. 64-72).
• Rubin K.H., Mills R.S. (1988), The any faces of social isolation in childhood, “Journal of Consulting and Clinical Psychology”, vol. 56, n. 6, (S. 916-924).
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